Coming of Middle Age: Das Kapitel in dem Dream Girl meets Lost Boy
Sie war geheimnisvoll, weil niemand richtig hinsah. Er war verloren, weil er nicht gelernt hatte, dazubleiben. Heute sind sie erwachsen.
“Margo always loved mysteries. And in everything that came afterward, I could never stop thinking that maybe she loved mysteries so much that she became one.” - John Green
Als ich letztens Hard Land las, stolperte ich unausweichlich über sie, wie schon viele hunderte Male zuvor in meinem Leben: Das geheimnisvolle Mädchen. Diese mythisch überhöhte geheimnisvolle Gestalt aus Coming-of-Age-Romanen. Oder Filmen, dann bekannt als Manic Pixie Dream Girl. Wohlgemerkt, aus Coming-of-Age-Romanen und -Filmen, die von Männern geschrieben wurden.
Sie scheint eine Mischung aus Wind, Melancholie und Benzingeruch zu sein. Eine zarte Unruhe, die nach Sommernächten schmeckt, nach Zigarettenrauch auf kaputten Balkonen und nach einem Blick, der nichts erklärt, aber alles verspricht. Diejenige, die immer ein bisschen später kommt, als man denkt, und ein bisschen früher geht, als man gehofft hatte, mit dieser Art von Blick, der sich nicht aus Neugier ergibt, sondern aus einem inneren Wissen heraus, dass man in einer einzigen Sekunde mehr über einen Menschen erfahren kann als in einem ganzen Gespräch, wenn man nur bereit ist, nicht alles verstehen zu wollen. Sie raucht nur nachts, wenn niemand hinsieht, oder vielleicht gerade dann, wenn alle hinschauen, aber keiner etwas sagt, sie trägt ihre Kleidung wie beiläufige Zitate (von denen sie übrigens auch eine Menge mit sich und aus sich trägt, wenn sie etwas sagt, sagt sie es mit Zitaten), sie trägt Pullis, die sie irgendwo getauscht, gefunden oder vergessen hat, und wenn sie lacht, dann klingt es, als wüsste sie, wie alles endet, aber als wolle sie es trotzdem noch einmal erleben. Sie ist hektisch und langsam zugleich, unaufgeregt und mitreißend, ungerührt von der Dringlichkeit anderer, gerührt von allem anderen in der Welt. Es gibt jenen einen Sommer, so heißt es, da war sie einmal verschwunden, einfach so, über Wochen und Monate, ohne Plan, und als sie zurückkam, sprach sie leiser, aber irgendwie gewichtiger, als hätte sie etwas abgelegt, das niemand gesehen hatte. Auch wenn sie nicht viel erzählt, bleibt immer das Gefühl, dass sie in jedem Raum, den sie betritt, eine Art zweite Schicht Luft hinterlässt, dichter, aufgeladener, als hätte man kurz vergessen zu atmen.
Sie ist das Gegenteil von greifbar, eine Art poetische Ausnahmegenehmigung vom Leben. Und eben auch: Meist keine Figur mit Entwicklung, sondern ein Ereignis mit und im Schatten. Plotgerät, melancholischer Katalysator für das Seelenwachstum eines jungen Mannes, der sie nie ganz verstand, aber umso inniger brauchte und immer schmerzlich vermisst.
Sie ist der Moment vor der Entscheidung. Der Windstoß vor dem Regen. Die letzte Zigarette, bevor jemand erwachsen wird. Männer lieben das und offenbar wollen sie ihre Frauen so.
Und wir? Wir lieben sie und hassen sie und verstehen sie so sehr. Wir wollen (oder wollten) diese geheimnisvolle junge Frau aus den Büchern sein. Wir waren sie, haben sie und die Lücken in ihrem Text mit Leben und Emotionen gefüllt. Vielen von uns fiel es nicht schwer, uns in ihr wiederzufinden. Wir, die als Mädchen lieber gelesen als geredet, lieber geschrieben als geplaudert haben, die wir lieber die Pausen beobachtet als auf ihnen performt haben – viele von uns haben diese Figur gesehen, die sich nie erklären musste, die in Liedern auftaucht und wieder verschwindet, die in Filmen mit dem Fensterblick gezeigt wird, immer ein wenig verhuscht, aber tief. Und wir dachten: Das könnte ich sein. Das könnte ich schon längst sein!
Sie ist das Gegenteil von greifbar, eine Art poetische Ausnahmegenehmigung vom Leben
Die Geschichte um sie herum ist eine Geschichte, die wir verstehen. Sie gibt uns Raum und eine Figur, die das verkörpert, was wir selbst nicht sagen können oder konnten, aber spüren wollten: Dass wir so viel mehr in uns tragen, ohne es ständig teilen zu können. Dass wir beobachten, reflektieren, erinnern – und uns dennoch oft übersehen fühlen. Die Figur des geheimnisvollen Mädchens gibt dem leisen Mädchen Macht. Nicht durch Worte, sondern durch Wirkung. Durch eine kleine Pause der Unsichtbarkeit. Jemand stellt uns in den Mittelpunkt, ohne dass wir es selbst tun müssen. Was für eine Erleichterung. Was für eine Lüge.
Dann wurden wir erwachsen und stolperten hinein in eine Welt, die sich auf einmal ganz anders anfühlte: schneller, greller, hungriger nach Sichtbarkeit, aber nach der Art von Kommunikation, wie wir sie schätzen. Plötzlich war es möglich, Dinge zu teilen, Gedanken zu zeigen, sich mitzuteilen, ohne sich physisch zu exponieren, man konnte nun aus der Ferne Nähe herstellen, ohne die eigene Komfortzone zu verlassen, aus der eigenen stillen Mitte heraus etwas senden, was vorher im Tagebuch geblieben wäre, in der Fantasie, im Brief, den man nie abschickte. Oder nur in äußersten Notfällen, wie es zum Beispiel Rory Gilmore tat oder Margo Roth Spiegelman. Spuren hinterlassen, ohne selbst gesehen zu werden. Geheimnisvolle Mädchen sind nicht nur für Außenstehende mysteriös, sie lieben auch selbst alles, was mysteriös ist.
Es schien als spräche die Welt nun unsere Sprache. Aber mit der Möglichkeit kam auch die Überforderung, denn was man nun zeigen konnte, musste auch ständig gezeigt werden, und was man einmal gesagt hatte, wollte schon im nächsten Moment wieder ersetzt werden durch etwas Neues, Schnelleres, Pointierteres, und all das, was uns einst geschützt hatte, das Zögern, das Formulieren, das Bleiben im Halbschatten, wurde abermals zur Schwäche, zu einem Defizit, das sich nicht mehr übersetzen ließ.
Trotz des Wunsches, habe ich mich im wahren Leben nie sehr geheimnisvoll gefüht. Ich fühlte und fühle mich ertappt, blossgestellt und zu viel, obwohl ich das definitiv nicht war. Dass das so ist, lag und liegt jedoch vermutlich weniger an mir, als am Gegenpart des Manic Pixie Dream Girls, die in Buch und Film auch nur so gut funktioniert, weil sie eben diese Projektionsfläche für die eigentliche Hauptfigur ist: Der Lost Boy, Peter Pan, Jess Mariano.
Er ist kein Bösewicht. Aber auch kein Happy End.
Er ist der Junge, der sich im Unterricht nie meldet, aber später im Bus ein zerlesenes Buch aus der Jackentasche zieht. Er ist der, der abwesend wirkt, auch wenn er im Raum ist, der sich nie freiwillig öffnet, aber plötzlich einen Satz sagt, der so präzise ist, dass man sich fragt, wie lange er schon alles mitliest, was man selbst nicht einmal laut gedacht hat. Sein Schweigen ist nicht leer, sondern schwer. Es ist voll von allem, was nie ausgesprochen wurde – von einem Vater, der nicht blieb, einer Mutter, die überfordert war, von der Erfahrung, dass Nähe immer ein Versprechen ist, das früher oder später gebrochen wird. Er hat keine Angst vor Schmerz – nur davor, dass jemand sieht, wie tief er sitzt. Er spricht in Halbsätzen, nie ausweichend, aber auch nie vollständig, als wolle er verstanden werden, aber nicht gelesen, wie ein offenes Buch.
Und natürlich ist da etwas in ihm, das ruft (nicht laut, nicht direkt, nur hörbar für diejenigen, die selbst gelernt haben, auf Zwischentöne zu lauschen wie eben dieses geheimnisvolle Mädchen): eine Hoffnung, dass es jemanden gibt, der bleibt, ohne zu fordern, der spürt, was er nicht sagt, der seine Rückzüge nicht als Desinteresse liest, sondern als Schutzmechanismus aus einer Zeit, in der Nähe gleichbedeutend war mit Schmerz. Er ist klug, viel klüger als er sich gibt, zitiert aus dem Kopf Passagen, die er nie laut gelesen hat, versteckt seine Verletzlichkeit hinter Sarkasmus, lehnt sich gegen alles auf, was Ordnung und Sicherheit verspricht, weil er beides nie kennengelernt hat.
Und er liebt.
Und zwar auf eine Weise, die einen gleichzeitig aufblühen und verkümmern lässt: aufblühen, weil man sich gesehen fühlt wie selten zuvor, und verkümmern, weil man nie weiß, ob es reicht, um ihn zu halten. Manchmal schreibt er Briefe, die er nie abschickt, oder verschwindet, wenn es gut wird, nicht aus Feigheit, sondern aus der tiefsitzenden Überzeugung, dass er nur kaputt machen kann, was heil ist.
Er liebt nicht leicht. Aber er liebt.
Nur eben zu spät. Zu kompliziert. Zu sehr im Inneren. Und so stehen wir vor ihm oder neben ihm oder gegen ihn – als jemand, der glaubt, dass Liebe heilt, dass Geduld rettet, dass Verständnis genügt. Doch der Lost Boy will nicht verstanden werden – er will gespürt werden, ohne dass man ihn zu sehr berührt. Er will Nähe, aber erträgt sie nicht. Er will bleiben, aber nur, wenn wir ihn nicht festhalten. Und wir selbst, die das alles fühlen, bleiben oft zurück mit der Frage, ob wir wirklich geliebt wurden – oder ob wir nur jemand waren, der den Lost Boy für einen Moment daran erinnerte, dass Nähe und Liebe möglich sind, ohne gleich alles zu zerstören.
Er ist kein Bösewicht. Aber auch kein Happy End.
Vielleicht auch, weil wir einfach keine Lust und Kraft mehr haben, immer wieder die emotionale Hauptrolle im Leben eines Mannes zu übernehmen, der sich selbst nicht spüren will.
Der Lost Boy taucht sowohl in Geschichten auf, die von Männern geschrieben und erzählt werden, als auch in denen, die von Frauen stammen – aber je nachdem, wer erzählt und für wen erzählt wird, übernimmt er eine andere Funktion. In männlich gefärbten Erzählungen durchläuft er eine Katharsis: Das geheimnisvolle Mädchen bricht ihm irgendwie das Herz, bleibt ungreifbar, bleibt schön, bleibt eine Figur. Gerade weil sie sich nicht ganz erklären lässt, wird sie zum Ideal, zum Mythos, zur Erinnerung, an der er wächst. Er wird erwachsen, findet zu sich, geht seinen Weg, schreibt vielleicht ein Lied oder ein Buch über sie – und am Ende ist alles irgendwie cool.
In den Geschichten von Frauen, oder vielleicht eher: in den Geschichten, die für Frauen gedacht sind, begegnen wir demselben Typ, nur aus dem anderen Blickwinkel. Wir sind nicht nur Beiwerk oder Figur mit eingeschränkter Handlung, sondern werden vierdimensional: Höhe, Breite, Tiefe und Emotion. Wir sind diejenigen, die versuchen, ihm etwas anzubieten, das er nie hatte oder nie zu nehmen wagte: echte Nähe, Sprache, Gefühl. Liebe. Wir treten mit unseren Emotionen an ihn heran, mit Zärtlichkeit, mit Geduld, mit dem Glauben, dass es möglich ist, ihn zu erreichen, vielleicht sogar zu retten. Manchmal durch Drama, vor allem aber durch Präsenz. Ich bin für dich da.
Und dabei verbrauchen wir uns, nicht auf einmal, sondern schleichend, bis wir irgendwann merken, dass wir alles gegeben haben, während er noch immer am Rand steht und nicht weiß, ob er überhaupt losgehen will. Der Übergang von Romanfigur zur Realität hat sich in den letzten Sätzen irgendwo eingeschlichen. Wir leben unsere Ideale auf.
Heute, als erwachsene Frauen, sind wir nicht mehr geheimnisvoll, weil wir schweigen, sondern weil wir erschöpft sind. Erschöpft vom Funktionieren, vom Kümmern, vom mental Load, vom Navigieren zwischen Lohnarbeit, Fürsorge, Selbstverwirklichung und gesellschaftlichem Erwartungsdruck. Wir sind unerreichbar geworden, nicht aus Inszenierung, sondern aus Überforderung, und vielleicht auch, weil wir einfach keine Lust und Kraft mehr haben, immer wieder die emotionale Hauptrolle im Leben eines Mannes zu übernehmen, der sich selbst nicht spüren will.
Die Männer – nicht alle, aber viele – sind irgendwie immer noch die Lost Boys, nur heute etwas polierter, etwas ironischer, manchmal mit Mikrofon vor der Nase, weniger Haaren auf dem Kopf, mit einem Low-Key-Suchtproblem. Sie kokettieren mit ihrem Schmerz, sprechen in Podcasts über ihre „Unsicherheiten“, ihre „Traumata“, ihre „Männlichkeitskrise“. Oft bleibt es dabei beim eleganten Vokabular aus Psychologie und Genderstudies, beim Selbstbekenntnis ohne Konsequenz, beim Sichzeigen ohne Verantwortung. Sie sind verletzlich, aber auf eine Art, die oft noch immer uns braucht, um sie zu halten, zu deuten, zu bezeugen.
Und wir?
Wir hören vielleicht noch zu, aber wir antworten nicht mehr automatisch.
Weil wir gelernt haben, dass unser Mitgefühl wertvoll ist – und dass es manchmal besser ist, es für uns selbst zu behalten. Oder um es mit den Worten der Stephens, Johns, Benedicts, Benjamins oder Karl Oves zu schreiben:
Sie ist Anfang vierzig, aber man merkt es ihr nicht an, jedenfalls nicht auf die offensichtliche Weise – nicht an Falten, den Augenringen oder dem leichten Übergewicht in der Körpermitte, sondern eher daran, dass sie keine Erklärungen mehr abgibt, keine Erwartungen mehr formuliert, sondern sich durch Räume bewegt, als wüsste sie längst, was ihr zusteht, und als hätte sie aufgehört, um Erlaubnis zu bitten.
Ihr Haar trägt sie oft offen, aber nie auffällig – nichts an ihr ist laut, nichts grell, aber man sieht sie trotzdem zuerst, wenn sie irgendwo ankommt, vielleicht wegen der Art, wie sie ihre Tasche ablegt, wie sie Tee bestellt (niemals Kaffee), wie sie nie ihr Handy auf den Tisch legt. Sie trägt weiche Stoffe, dunkle Farben, bequeme Schuhe mit Geschichte – nicht aus Modebewusstsein, sondern aus dem Wunsch, nicht ständig etwas darstellen zu müssen. Zu oft und zu viel musste sie in ihrem Leben darstellen.
Sie riecht nach irgendwas zwischen Parfum und Seife; es ist der Duft, der bleibt, wenn sie längst gegangen ist und wiederkommt, wenn man die alltäglichsten Dinge tut. Erinnerungen sind schmerzhaft, aber keine ist so schmerzhaft, wie die Erinnerung an einen Geruch. Man munkelt, dass sie mal in einer Redaktion gearbeitet hat oder in einem Verlag oder irgendwo mit Worten – jedenfalls weiß sie, wie man Sätze setzt. Sie spricht selten, aber wenn, dann so, dass man sich wünscht, sie möge noch einen zweiten Satz sagen, oder zumindest den ersten wiederholen. Sie hat einen Sohn oder eine Tochter, vielleicht beides, vielleicht auch keine Kinder, aber einen leisen Blick für Dinge, die andere übersehen: einen losen Knopf, eine vergessene Frage, eine zu früh gestellte Entschuldigung. Sie arbeitet viel, aber niemand weiß genau woran. Sie ist immer beschäftigt, aber nie gehetzt, antwortet manchmal ganz spät am Abend auf Mails, manchmal in den frühsten Morgenstunden. Schlafen wird sie später.
Und wenn man sie fragt, wie es ihr geht, sagt sie: „Viel“, und lächelt dabei. Sie lacht selten laut, aber dann hell, und immer so, als hätte sie sich selbst überrascht. Sie ist freundlich, aber nicht zugänglich. Verbindlich, aber nicht verfügbar. Sie gibt das Gefühl, dass man sich beweisen muss, um in ihre Nähe zu dürfen – nicht weil sie sich absichtlich entzieht, sondern weil man spürt, dass sie sich selbst längst genug ist.
Vielleicht war sie früher dieses geheimnisvolle Mädchen, das auf Dächer kletterte und im Halbdunkel las. Jetzt ist sie eine Frau, die ihre Bücher nicht mehr mit sich herumträgt, sondern längst in sich. Sie ist nicht mehr unfassbar, aber auch nicht ganz greifbar. Sie ist nicht mehr idealisierbar, nur noch authentisch.
Und gerade das macht sie für immer zum Mythos.
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