Coming of Middle Age: Das Kapitel in dem ich nicht vergessen werden möchte / KW 22
Über pinke Haare, Einsamkeit und den Suchtfaktor von Askese
1 Buch der Woche
… ist „Dieses ganze Leben“ von Raffaella Romagnolo. Ich weiß nicht, ob ich je einen modernen Roman gelesen habe, der in Italien spielt und von einer Italienerin geschrieben wurde. Ich habe ihn sehr, sehr gemocht. Gekauft habe ich mir ihn vermutlich vor allem wegen des Covers, pinke Haare kriegen mich immer. Das war schon vor Jahren, im Langer Blomqvist, aber diese Woche habe ich ihn aus meinem to-read-Regal gezogen. Zum Glück!
Das Cover passt allerdings so gar nicht zum Inhalt: Die 16jährige Paola und ihr Bruder Richi, der im Rollstuhl sitzt, sind reich, Misfits und erkunden Gegenden, wo sie das wahre Leben und die Wahrheit vermuten. Coming-of-Age und Familiengeschichte in einem. Lieblingszitat: „Du musst dich bemerkbar machen, Antonio“, hat sie mir ins Ohr geflüstert, „du darfst nicht zulassen, das man dich vergisst.“ In einer Welt, wo sich viele ständig bemerkbar machen, ist es gleichzeitig sehr leicht, dass wesentliche Dinge und Menschen untergehen.
2 Gefühl der Woche
Einsamkeit. Nicht in einem normativen Paarkonstrukt zu leben ist vor allem dann scheiße, wenn man krank ist. Jetzt nicht schwer krank, in der Regel sind die wichtigen Menschen da, wenn man sie wirklich braucht und darum bittet. Aber einfach normal krank, Erkältungsschnupfen, der eigentlich ja nicht so schlimm ist, man aber an den 2-3 Tagen, an denen er sich auf seinem Höhepunkt befindet, trotzdem denkt, man müsse vielleicht sterben, so wie ein armes Kind aus einem viktorianischen Roman, das schwere Diphtherie hat. Man wünscht sich, gerettet oder zumindest ein bisschen umsorgt zu werden. Vor allem dann, wenn man selbst Care-Verpflichtungen nachzugehen hat, statt sich einfach für 72 Stunden eine Bettdecke über den Kopf ziehen zu können. Und Tee und Wärmflaschen und Obstschnitze bekommt, statt Essenkochen und Hunderunden und Vorlesen veranstalten muss. So die Fantasie.
Aus der Erfahrung weiß ich, dass es sich am Ende dann doch oft nicht so verhält. Dass eine umsorgende Person mehr, auch mehr Trubel bedeutet und dass mensch, wenn es einem nicht so geht, am Ende doch am liebsten mit gar niemanden reden und einfach RuheRuheRuhe haben will.
Und ich weiß auch, dass gerade in Beziehungen, in denen gar nicht so viel gut läuft, in solchen Momenten (den schlechten Zeiten), dann zwar gekümmert wird, das wiederum aber auch einen schalen Beigeschmack hat. Ich möchte eigentlich vor allem mit jemandem wegen der guten Zeiten zusammen sein und nicht, weil ich Angst vor schlechten Zeiten habe. In diesem Fall kommt es nämlich irgendwann soweit, dass man gar nicht mehr auseinanderhalten kann, was denn jetzt eigentlich die guten und was die schlechten Tage sind, weil man sich mehr oder minder mürrisch und missgünstig durch die gesamte Zeit schleppt. Alles für den Haussegen. Sehr diplomatisch, die meisten Beziehungen in Deutschland schaffen das, was deutsche Bundespolitik seit ein paar Jahren nicht mehr annähernd hinbekommt.
Und dann passiert auch, was passieren muss: Man will erst recht seine Ruhe bei Krankheit, die Decke über den Kopf ziehen, endlich eine Ausrede, sich abzukapseln, die Fürsorge kann sich die andere Person sonstwohin stecken.
Ich war ein bisschen traurig (und erkältet und fiebrig und nebenhöhlenverstopft), aber kurze Spaziergänge an der frischen Luft sollen ja gesund sein und die Kinder waren auch nicht so sehr betrübt darüber, 8 Folgen Türkisch für Anfänger am Stück geguckt zu haben. Was es mit mir gemacht hat: Ich mag in diesem Rewatch Ulla. Vielleicht mochte ich sie auch schon immer. Ich glaube, wir brauchen eigentlich alle eine Ulla in unserem Leben. Ich glaube aber auch, in jeder Frau schlummert bereits eine Ulla und eine Lena (deeper Interpretationsversuch hier). So ist das eben. Ambivalenzen muss man aushalten lernen.
(Und am Ende war das Gefühl der Woche vielleicht weniger Einsamkeit und eher weinerlich und krank.)
3 Obst der Woche
… sind Kirschen. Man muss jede Kirsche essen, die man essen kann. Kirschen sind Sommeranfang. Kirschen sind Liebe. Wer einen Kirschbaum besitzt, ist eine reiche Person (metaphorisch und literally).
4 Aktivität der Woche
Ich hab mir angewöhnt, ohne mein Handy auf die Hunderunden zu gehen. Also nicht auf alle, aber zumindest auf einige. Mir ist nämlich aufgefallen, dass ich es dafür gar nicht brauche (Wow!).
Ich habe mich gefragt, ob Askese, wenn man einmal damit anfängt, zu einer Art Sucht wird. Erst hört sie auf Alkohol zu trinken, dann Klamotten zu kaufen, dann löscht sie ihren Instagram-Account, versucht keine Bücher mehr zu kaufen, löscht ihren Prime-Account und dann fängt sie auch noch an, ihr Smartphone zu Hause zu lassen und von sich in der dritten Person zu schreiben. Bisschen befremdlich. Das mit den Klamotten habe ich jetzt übrigens sieben Monate durchgehalten und, genau wie mit dem Alkohol, wird es leichter mit der Zeit. Oder eventuell kommt auch der Druck aus einer anderen Richtung. Manchmal beschleicht mich das Gefühl, ich tue es nicht mehr aus dem eigentlichen Grund heraus, sondern weil ich es jetzt schon so lange durchgehalten habe, wäre doch schade, wenn ich damit aufhörte bis… Ja, bis wann eigentlich? Immer? Auf Alkohol zu verzichten ginge sicherlich, wenngleich ich mir doch ebenfalls manchmal das Gegenteil herbei halluziniere: Dass manche Dinge leichter wären damit. Dass manche Dinge vielleicht nicht passiert wären mit Alkohol. Zum Beispiel das Einschlafen des ein oder anderen Kontaktes. Aber natürlich erinnere ich mich dann auch wieder schnell daran, dass Kontakte, die allein auf dem Konsum von Alkohol basieren, vielleicht nicht die sind, denen ich hinterher trauern sollte. Und dass bei einigen anderen Kontakten unsere besten Tage die waren, an denen wir nichts getrunken haben. Aber es hat die schwierigen Tage leichter gemacht, zumindest in meiner nostalgisch verfärbten Melancholie. Ich glaube, das stimmt so nicht wirklich. Bekleidung werde ich mir jedenfalls irgendwann mal wieder kaufen müssen, zumindest Unterwäsche.
Das mit dem Handy und den Hunderunden ist noch kein ausgereiftes Konzept. Ich bin sehr weit davon entfernt, auf mein Smartphone zu verzichten. Aber ich habe gemerkt, dass es nicht essentiell ist, alle meine Schritte zu zählen, irgendwie ist das eine ziemlich nichtssagende und gleichzeitig stressige Statistik. Das wissen wir natürlich alle, aber zählen wir trotzdem unsere Schritte? Ja.
Es ist auch okay, wenn ich mich mal für ein Weilchen nicht mit herzzerreißender Musik zuballere und emotional sogar etwas entlastend, wenn ich mich nicht entscheiden muss, ob ich The Tortured Poets Department (der Song) von Taylor oder I love you, I’m sorry von Gracie in Dauerschleife hören will, während ich kurz um den Block schleiche. Ich kann ganz da sein, ohne Ablenkung.
Ich muss nicht immer und ständig erreichbar sein, weder für die Arbeit, noch für meine einigermaßen großen Kinder oder irgendeine anderen Push-Mitteilung, die ich aus irgendwelchen Gründen nicht deaktiviert habe. Vor allem aber, und das ist vielleicht der schmerzliche Hauptgrund, muss ich mein Telefon nicht dabei haben, weil ich diese eine Nachricht, auf die ich seit langer Zeit warte, wohl nicht in den zwanzig Minuten, die ich mit Monika an der pollenschwangeren Panke hin und der zugekackten Nebenstraße zurück schleiche, erhalten werde. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie nie mehr kommen wird.
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