Coming of Middle Age: Das Kapitel, in dem ich nicht mehr all in sein will (und auch nicht will, dass andere das sind)
Schon länger bin ich froh darüber, dass …
… 67 Prozent vollkommen ausreichend sind. Manchmal vielleicht auch 80 Prozent und manchmal 51 Prozent. Im Geben und auch im Nehmen. Ein Vielleicht ist kein Nein, aber eben auch kein absolutes Ja und beinhaltet, dass das Leben eben komplexer ist. Ich glaube, es ist weniger Zeitgeist (eher im Gegenteil), ich tippe mehr auf’s Alter (und eventuell der Ausstieg aus den short content sozialen Medien), dass mit die Abkehr vom Eindeutigen mittlerweile große Freude bereitet. Wohl auch in meinen 20ern hätte ich, subjektiv betrachtet, die meisten 67-Prozent- oder Vielleicht-Situationen hervorragend überstanden, aber sie haben mich heftig verunsichert. Sowohl von mir selbst kommend als auch von anderen. So: Mit-Schwung-in-die-nächste-Lebenskrise-Verunsicherung.
Don’t get me wrong, ich finde es wichtig, sich grundsätzlich auch für Dinge zu entscheiden und dahinter zu stehen. Verantwortung zu übernehmen eben. Aber es ist genauso okay - und auch wichtig - in diesen Entscheidungen ambivalent zu sein. Ja, und diese Sache mit dem “all in” impliziert in vielen Fällen auch wieder eine Norm, an die wir uns halten (sollten). Und das müssen wir meistens eben nicht.
Nehmen wir zum Beispiel Beziehungen, denn dort ist die Norm des „all in“ wohl am prägendsten (in uns hineingedrillt worden). In vielen kulturellen Bildern (Filme, Romane, Social Media usw.), aber auch im alltäglichen Vorleben, wird die Idealbeziehung oft so dargestellt:
exklusive emotionale Hingabe: Du bist mein Ein und Alles. Keine Zweifel, keine Zögerlichkeit.
sofortige Klarheit: Wenn es richtig ist, weiß man es sofort und schmeißt auch sofort alles hin.
Priorität 1: Alles andere tritt zurück: Freunde, Job, eigene Interessen und irgendwie auch das eigene Selbst (dieser Punkt trifft wohl auf Frauen mehr zu als auf Männer, nun ja…).
unerschütterliches Commitment: Und zwar ohne die Person wirklich zu kennen, wird schon passen.
romantische Aufopferung: Wenn du nicht bereit bist, für die Beziehung alles zu tun, ist es kein echtes "all in". Und apropos Romantik, es gibt nichts romantischeres als Sex, der gleich richtig geil funktioniert (hier eine klitzekleine Ode an Seth, Summer und den Fish-Sex, aber an deren Beziehung ist aus heutiger Perspektive leider auch nichts romantisch).
Kurz gesagt, wenn es echt ist, gibt es keine Halbheiten. Diese Realitäten halten sich - trotz aktuellerer und - wie ich zum Beispiel aus Brigitte Reimanns Tagebüchern weiß - schon viel länger bestehender Realitäten hartnäckig. Woher kommt das?
Romantische Ideale aus der Literatur (seit dem 19. Jahrhundert richtig stark und seit Bridgerton noch stärker).
Hollywood-Erzählungen: Große Liebe erkennt man daran, dass sie über alle Zweifel hinweg trägt (auch bei den Bridgertons gibt es Zweifel, aber feurige Blicke und lautes Atmen verraten, dass wahre Liebe ist stärker ist als alle Zweifel).
Traditionelle Gesellschaftsbilder: Beziehung (oft Ehe) als absolute Lebensbasis.
Und ja, in a nutshell - it’s the patriarchy, smartie!
Denn wer viel gibt, kann auch viel verlieren. Nerven und Interesse vor allem.
Aber natürlich ist „all in“ heute in allen Lebensbereichen irgendwie wichtig, weil …
… mensch den Job richtig liebt. (Nicht Beruf, sondern Berufung. Sonst willst du ihn wohl nicht genug, oder?) … mensch für ein Herzensprojekt alles gibt. (Schlafen ist für Leute ohne Vision.)… Körper Tempel sind (Muskelkater ist der Mindestlohn. Wer nicht stählt, existiert nur halb.)… Spiritualität das neue katholisch ist. (Halb erleuchtet zählt nicht. Entweder Nirvana, alles andere ist Netflix-Gefühl („Ich hab zwar nichts Großes erreicht, aber immerhin ist mir jetzt warm ums Herz und ich hab Snacks.“)) … ein ausgeprägtes social life die neue Familie ist - wenn schon keine “richtige” Familie. (Freundschaften brauchen Pflege; wer nicht auf jedem Geburtstag, Polterabend und Charity-Dinner auftaucht, existiert gesellschaftlich nicht.)… mensch Kosmopolit*in sein muss. (Reise, lebe, liebe weltweit. Sonst bleibst du halt Dorflegende.)… politisch aktiv sein das Mindeste ist. (Meinung haben reicht nicht – du musst zu allem eine Meinung haben.) … Eltern sein ein Vollzeitjob ist - mit Überstunden und für den mensch natürlich mehr als brennt (alternativ auch hier Berufung). (Bio-Brotbox, achtsame Kommunikation, Woom-Bike – und wehe, dein Kind fährt Stützräder.)… Nachhaltig leben in dieser Aufzählung nicht fehlen darf. (Ein Jutebeutel macht noch keinen Weltretter. Kompostiere gefälligst dein Karma.)
Heute denke ich - oder weiß ich - dass gerade diese 100-(oder 150-)Prozent-Schiene der sicherste Gleis für ein Fail ist. Ob nun in Beziehungen oder anderswo. Denn wer viel gibt, kann auch viel verlieren. Nerven und Interesse vor allem. Manchmal sogar ziemlich schnell und ziemlich plötzlich. Alles, was gut ist, wächst eigentlich langsam. Auch hier will ich nicht sagen, dass man bei Dingen (oder Menschen oder Jobs) auf jeden Fall bleiben soll, wenn’s scheiße ist. Ganz im Gegenteil, die meisten Sachen werden auch nicht besser. Manche bleiben immer ein bisschen hart (aber eben auch schön), andere sind ziemlich ätzend (und gehören aus dem Leben verbannt). Aber es lohnt sich, dabei zu bleiben und Ambivalenzen auszuhalten (ich brauchte auch erst eine Therapie um das zu lernen).
Heute denke ich - weiß ich - dass ich nicht in jedem Lebensbereich zu jeder Zeit brennen, leuchten und performen muss, um nicht das Gefühl zu haben, zu verlieren. Nicht “all in” zu sein bedeutet nicht, dass mir etwas egal ist.
Wer immer all in ist, verliert irgendwann (vielleicht) das Gefühl dafür, was ihm eigentlich wichtig war. Vielleicht bewahrt ein Vielleicht das Herz besser als ein schlecht gesetztes Ja.
Vielleicht ist es das klügste Commitment, sich nicht überall zu verlieren.
Vielleicht reicht halb da und halb wach völlig aus. Und irgendwie ist halb da zu sein auch eine Form von ganz bei mir zu sein.
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