Coming of Middle Age: Das Kapitel, in dem es endlich wieder eine Counterculture gibt - oder nicht?
In der politischen Gegenwart klaffen Haltung und Handlung oft weit auseinander. Kritik ist allgegenwärtig, aber selten verbunden mit persönlicher Konsequenz. Schade. Oder eher: Scheiße.
Ich war wieder social-media-lustlos in den letzten Wochen, was einerseits am hohen Arbeits- und Sozialpensum in der vorwiegend analogen Welt zurückzuführen war, andererseits auch auf die Inhalte, die sich immer wieder in meine Feeds (also eigentlich nur Substack spielten). Wobei es weniger an den Inhalten an sich als am Ton lag. Ich fühlte mich sehr an meine Instagram-Zeit erinnert und hatte keinen Bock.
Eine Sache, die vor allem hängen bleibt - und eben auch im analogen Berlin 2025 sehr präsent ist - waren vermehrte Artikel - allerdings vorwiegend mit anglo-amerikanischem Background - zu „endlich gewinnt die Counterculture an Dynamik“, mostly zurückzuführen auf den Auftritt von Bob Vylan beim Glastonbury (für alle die, die es nicht mitbekommen haben: das Rap-Duo stimmte auf der Bühne den Slogan “Death to the IDF” an, für den sich das Publikum von gefällig bis begeistert zum mitchanten animieren ließ). Es soll an dieser Stelle nicht um den Nahen Osten gehen. Ich persönlich finde, dass man dazu eine Meinung haben kann, ohne sie überall niederzuschreiben und im besten Fall ist sie auch irgendwie differenziert. Zumindest medial ist das aber nur noch selten der Fall.
Es geht vielmehr um die Idee der Bewegung, der Widerstand. Gemeint damit ist in den meisten Artikeln oder Posts, die mir so über den Weg liefen, eine Counterculture gegen „den Westen“. Als erstes musste ich beim Lesen allerdings ein bisschen lachen, denn das mit dem Glastonbury Festival in Zusammenhang zu bringen ist schon eine mutig-akrobatisch geistige Leistung. Vielleicht aber auch nicht, denn ich glaube: Wir merken es einfach nicht mehr.
Wer sich heute als Teil der Gegenkultur sieht oder vielmehr „inszeniert“, tut das meist top gestylt, vermeintlich gut informiert und in erster Linie gut vernetzt. Na ja, vielleicht auch in erster Linie gut gestylt. Tickets für das Glastonbury Festival kosten umgerechnet ca. 450 Euro (ohne Anreise, Übernachtung und Verpflegung) und sowohl bei normalen Besucher*innen als auch bei Prominenz gilt: Der Sandweg zur Bühne ist gleichzeitig Laufsteg und Promomeile; social media sieht, hört und liest alles. Deswegen sitzt nicht nur der Glitzer im Gesicht, sondern auch der dogmatisch linke Slogan. Der Kapitalismus muss weg, das Patriarchat sowieso, und natürlich „der Westen“. Doch was genau ist eigentlich mit „dem Westen“ gemeint? Und was ist jetzt eigentlich unsere Rolle im Widerstand?
„Der Westen“ – das ist längst mehr als eine Himmelsrichtung oder die NATO, europäischer Kolonialismus, Silicon Valley, Coca Cola und McDonalds. Der Westen ist irgendwie auch ein extrem stabiler Zugang zu sauberem Wasser und Strom, das Smartphone in deiner Tasche, dein Wahlrecht, deine Streaming-Plattform und dein Wochenend-Trip nach Lissabon. Der Westen ist nicht irgendwo weit draußen auf der Anklagebank – er ist in uns. Er ist unsere Lebensweise. Unsere Bequemlichkeit. Unsere Selbstverständlichkeit. Unsere Aufmerksamkeitshygiene.
Viele, die heute gegen „westliche Ideologien“ demonstrieren, surfen in Wahrheit ziemlich lässig auf der Welle ebendieser Ideen. Freiheit unbedingt, aber vor allem die eigene. Kapitalismuskritik, noch unbedingter, solange’s nicht den eigenen Komfort betrifft. Und der Boykott? Auf jeden Fall, aber bitte selektiv: Israel ist leicht zu boykottieren, weil es unser Leben nicht einschränkt. Amazon, Nestlé, Apple, Turkish Airlines (in dieser Argumentationslinie auch Westen), Saudi-Arabien (das auch), Katar (das ebenso), Shell? Schwierig. Das sind ja Basics. Dazu kommt: Boykott rufen und verlangen, aber es tatsächlich durchziehen: Zwei sehr unterschiedliche Dinge.
Die Kritik am Westen ist oft symbolisch, nicht existenziell. Sie zeigt sich als Haltung, nicht als Handlung. Sie ist laut, aber folgenlos. Man schreibt ein Zine über koloniale Kontinuitäten… und bestellt danach Bio-Kaffee mit Next-Day-Delivery. Man boykottiert israelische Produkte (was genau sind eigentlich israelische Produkte, der Streit um Humus zeigt, dass das nicht so einfach ist), aber nicht das Lithium für die Smartphone- oder Lastend-Batterie.
Und natürlich sind es nicht nur progressive Milieus, die nach dem Prinzip „solange es mir nützt“ handeln.
Auch konservative und rechte Kreise inszenieren sich längst als Kritiker des Westens, nur aus entgegengesetzter Perspektive. Sie wenden sich gegen eine vermeintlich dekadente Moderne, gegen Individualismus, Liberalismus, Säkularisierung, Vielfalt – also genau gegen jene westlichen Selbstbeschreibungen, die einst als zivilisatorischer Fortschritt gefeiert wurden. Auch ihre Kritik führt nicht zu Solidarität oder Systemveränderung, sondern zu Abschottung, Besitzstandswahrung und autoritärer Rückwärtsgewandtheit.
Wohlstand soll gesichert werden, aber bitte nur für “die eigenen Leute”. Grenzen müssen dicht bleiben, aus Sorge um die Kultur, den Sozialstaat, die Sicherheit. Menschenrechte gelten so na ja und vor allem selektiv. Als moralisches Fundament dient oft ein verengter Begriff von Nächstenliebe, ein funktionalisiertes Christentum, das Abendland oder ein skurril völkisch aufgeladener Begriff von Heimat. Der Satz „Es kann ja nicht jeder kommen“ ist dabei nicht nur Abwehr, sondern Ausdruck eines tiefen Misstrauens gegenüber globaler Gleichheit und Gerechtigkeit.
Auch hier wird Moral zur Verteidigung des Eigeninteresses instrumentalisiert. Rechte Kritik am Westen ist keine systemische Kritik, sondern eine kulturelle Regression. Sie beklagt Verlust an Autorität, Homogenität, Kontrolle und zementiert damit das westliche Machtgefüge in anderer Form: nicht als liberale Weltoffenheit, sondern als ethnisch sortierte Festung. Puh.
Am Ende ähnelt sich vieles (noch mal Puh, in meinen wirklich widerständigen Jahren hätte ich jetzt gegen die Hufeisen-Theorie gewettert, aber die ist es gar nicht, vielmehr eine Beobachtung): Ob mit progressiver Attitüde oder reaktionärem Pathos – oft geht es nicht um Transformation, sondern darum, gut dazustehen, ohne etwas aufgeben zu müssen. Auf allen Seiten: Moral als Bollwerk. Zwei Gesichter desselben westlichen Traums vom ungestörten Eigenen.
Vermutlich beginnt echte Gegenkultur dort, wo wir aufhören, gesehen werden zu wollen.
Dort, wo Menschen sich nicht allein über ihre Haltung inszenieren, sondern über ihr konkretes Handeln definieren. Wo Kritik nicht kuratiert, ästhetisiert und verbreitet wird, sondern sich in alltägliche Entscheidungen übersetzt.
Das kann bedeuten, in der Pflege zu arbeiten. Im Hospiz oder in der Behindertenassistenz, als bewusste Entscheidung für eine Arbeit, die Zuwendung verlangt, Geduld braucht und kaum Anerkennung erfährt. Es kann heißen, Eltern in ihrer Sorgearbeit zu entlasten, auch wenn es vielleicht nervig oder langweilig ist (das lässt sich in der Tat super instagrammen, aber aus Erfahrung let me tell you: don’t!).
Auch in der Ernährung lässt sich Verantwortung leben: klar, durch Konsumentscheidungen, aber auch durch Mitarbeit in solidarischer Landwirtschaft, durch den Aufbau von Permakulturprojekten oder in Food-Coops, die nicht gewinnorientiert, sondern gemeinschaftsbasiert arbeiten. Statt zu kritisieren, woher Lebensmittel kommen, wird mit angebaut, verteilt und getragen.
Wer sich für Bildungsgerechtigkeit einsetzen will, kann mit Menschen arbeiten, die oft übersehen werden: Erwachsene mit Grundbildungsbedarfen, Menschen mit Zweitsprachenerfahrung, digital Ausgeschlossene. Nicht in repräsentativen Projekten, sondern im Alltag, im kleinen Raum, jenseits jeder Sichtbarkeit. Ein Nachbarschaftsbüro oder ein Grundbildungszentrum gibt es fast in jeder Stadt. Und falls nicht: Go for it!
Auch im Bereich Migration reicht es nicht, Merch-Produkte von Sea-Watch zu kaufen (nontheless, nettes Weihnachtsgeschenk) oder einen Hund aus Südeuropa zu retten, wenn gleichzeitig Wohnraum verweigert, Bürokratie ignoriert und Nähe gemieden wird. Wohnraum für Geflüchtete bereitstellen, dolmetschen, Begleitungen übernehmen sind Formen echter Verantwortung. Oder einfach mal, gerade in größeren Städten, wo die Counterculture doch eher vertreten ist: Mit den Nachbar*innen reden, die nicht weiß sind, den Jungstrupps auf der Straße nett erklären, dass sie gefälligst ihren Müll mitnehmen sollen oder sich in einem lokalen Sportverein engagieren. Auch das ist Sichtbarkeit.
Ebenfalls politisch ist das eigene Wohnen: solidarische Hausgemeinschaften, Besetzung von Leerstand, Mitwirken in Mietkollektiven – all das kann konkrete Alternativen zum marktförmigen Wohnen schaffen. Und I get it, ist nicht jedermenschens Sache mit Fremden zu teilen, aber vielleicht ist auch der Einsatz für die Zerschlagung von Immobilienkonzernen dein Einsatz. Und keine Sorge, niemand will dir dein Eigenheim wegnehmen - es sei denn es kommt heraus, dass sich darunter ein fossiler Rohstoff befindet… Ach ja, und wie politisch die Einrichtung der eigenen Wohnstätte ist, darüber schreibe ich vielleicht mal ausführlicher an anderer Stelle, aber es ist eine Praxis, die tief in gesellschaftliche Machtverhältnisse eingebunden ist. Wie viel Platz wir einnehmen, wie wir ihn gestalten und wessen Arbeit darin steckt, macht deutlich: Unsere Möbel und Bilder an den Wänden sind nicht unpolitisch - und die meisten unserer Pflanzen vermutlich ziemlich unökologisch.
Politisches Handeln muss nicht immer laut sein. In Stadtteilräten, Bezirksinitiativen oder Gewerkschaften mitzuarbeiten, kann wirkungsvoller sein als der nächste Social-Media-Post (wobei diese beiden Dinge vermutlich so eng zusammengehören wie kein anderer, Stichwort Öffentlichkeitsarbeit). Protest ist wichtig – aber wer in Strukturen mitarbeitet, schafft Räume, in denen Veränderung dauerhaft möglich wird.
Wer Konsum nicht nur beklagen, sondern wirklich durchbrechen will, kann Dinge tauschen, Kleidung flicken, im Repair Café mitwirken. Das Auto stehen lassen. Kein neues Smartphone kaufen. Kein Amazon. Kein „aber ich brauche das jetzt“. Konsumverweigerung ist keine moralische Übung, sie ist eine Kulturtechnik gegen den Wahnsinn. Zumindest in industrialisierten Ländern. Unsere hoffentlich gut gestreuten ETFs werden nicht den Bach runtergehen, wenn wir hier weniger kaufen. Im Gegenteil, vielleicht gibt das anderen die Chance, mehr zu kaufen. Ich glaube, das ist sowohl die leichteste als auch die schwierigste Art von Widerstand, weil sie unsere alltäglichen Gewohnheiten angreift.
Und dann gibt es das, was niemand sieht: Menschen im Alltag, aber auch in Krisen zu begleiten. Beim normalen Überleben, aber auch in Depression, Trauer, Angst, Einsamkeit. Keine Instagram-Story darüber, keine Awareness-Kampagne. Nur Nähe. Zuhören. Aushalten. Bleiben.
Das Problem ist nicht, dass es zu wenig Kritik gibt. Es gibt zu viel davon, dafür aber zu wenig Konsequenz.
Zu viele Texte, Talks, Podcasts, Panels. Zu viele Formen, zu wenig Form. Reflexion ist zur Ware geworden, Widerstand zur Pose. Vielleicht braucht es heute nicht noch ein Zine, sondern jemanden, der die Mülltonnen der Nachbarschaft rausstellt. Nicht noch einen Insta-Post zur Lage im Nahen Osten, sondern ein Gespräch mit dem Kind, dem das Lesen schwerfällt. Nicht noch eine ironische Einordnung, sondern Nähe.
Gegenkultur heißt heute nicht mehr zwangsläufig, gegen andere zu sein. Sie bedeutet in gewissen Maße, gegen sich selbst zu sein. Gegen das eigene Konsummuster, die eigene Erschöpfungslust, die eigene Trägheit. Gegen die Sehnsucht, unbedingt sichtbar zu sein.
Wer sind wir, wenn uns keine Öffentlichkeit mehr dabei zuschaut, die Personen zu sein, die wir vorgeben zu sein? Wer wären wir, wenn unser Engagement nicht mehr Likes bringt, sondern Zeit kostet? Wenn es leise wäre? Und vielleicht sogar unansehnlich?
Der Westen ist längst keine Himmelsrichtung mehr. Er ist ein Versprechen und eine Falle. Wer ihn bekämpfen will, muss sich von ihm entwöhnen. Nicht in der Theorie, sondern in der Praxis. Nicht spektakulär, sondern still.
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Sehr stimmige Gedanken in einer zunehmend dystopisch-selbstdarstellend unempathischen Welt (Ich meine besonders auch Berlin, wo ich lebe🫣)👌🏻🙏🏻🌹☀️
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